Geschichte: Advent in der schlechten Zeit!

Wenn wir den Ausspruch „schlechte Zeit“ hören, wissen wir ab einem bestimmten Jahrgang alle was gemeint ist. Das sind entweder die letzten Kriegs- oder die ersten Nachkriegsjahre. Ich denke jetzt an den Winter 1944-45 und ganz besonders an die Adventszeit 1944. Während der Bombenangriffe im November war unser Haus an einer Ecke getroffen und weggebrochen, so dass ein Zimmer nicht bewohnbar war. Und gerade dieses Zimmer, das von außen notdürftig vernagelt war, barg in der Adventszeit große Geheimnisse. Es war verschlossen, weil es zu gefährlich war, es zu betreten. Und trotzdem verschwand unser Vater tägliche einige Stunden darin. Ja, unser Vater, wenn er von der Zeche kam, er war Bergmann und unter Tage beschäftigt, vollzog sich immer das gleiche Ritual: Wenn er die Küche betrat, einen Korridor hatten wir nicht, stellte er zuerst das Mutterklötzchen neben den Herd und dann bekamen wir erstmal alle unser Küsschen. Meine Mutter, meine Schwester und ich. Dann kramte er aus einer uralten Aktentasche, die früher wohl mal ein Tornister war, eine große Flasche aus Blech, die sogenannte Kaffeeflasche… und dann wurde es spannend. Wenn er die Blechbutterdose schnell aus der Tasche nahm war das für uns nicht so interessant. Aber wenn er sich dafür Zeit nahm und sich fast in Zeitlupe bewegte, dann wurde es spannend. Denn dann befand sich in der verbeulten Butterbrotdose garantiert ein Hasenbütterken. Wir waren ganz wild darauf und passten genau auf, dass unsere Mutter es auch millimetergenau zwischen uns teilte. lch habe heute noch den Geruch und Geschmack des Hasenbütterkens in lebhafter Erinnerung. Erst viele Jahre später haben wir erfahren, dass unsere Mutter manchmal absichtlich eine Schnitte mehr eingepackt hatte und ab und zu packte unsere Mutter noch ein kleines extra Butterbrotpaket. Das war dann für einen der vielen Fremdarbeiter aus Polen, die auf der Zeche arbeiten mussten. Unser Vater musste aufpassen, dass er nicht erwischt wurde, denn sowas war streng verboten. Wer das verboten hatte und warum, wussten wir damals noch nicht.

Wir hatten sehr liebevolle Eltern, die sich viel mit uns beschäftigt haben. Mütter waren damals nicht berufstätig und Fernsehen, Tonbänder und dergleichen gab es noch nicht. Wir hatten ein Grammophon und vielleicht so 20 Schallplatten, deren Texte und Melodien wir Kinder alle mitsingen konnten. Es waren meist Arien und Opernchöre, was uns für unser späteres Leben sehr geprägt hat. Übrigens haben wir alle sehr gerne gesungen, unsere Mutter aber sehr falsch, dafür wir umso lauter. Wieder einmal war unser Vater in dem kaputten Zimmer verschwunden, dessen Tür mit einer Decke verhängt war, weil dieser Winter außergewöhnlich kalt war weshalb wir uns immer in der Nähe des Ofens aufhielten. lmmer hörten wir dann ein Sägen und Hämmern und laut unserer Mutter war unser Vater dabei, dem Christkind zu helfen. Ja, das Christkind, das holte jedes Jahr in der zweiten Adventswoche unsere Puppen ab, damit lhnen in der Himmelsstube neue Kleider gehäkelt, gestrickt oder genäht wurden. Das waren übrigens Celluloid-Puppen, die heute als Schildkrötpuppen sicher ihren Wert hätten. Wenn unser Vater dann hinter dem Deckenvorhang hervorkam, war er vollkommen durchfroren und hatte ganz weiße und steife Finger. Aber dann wartete schon ein in ein Handtuch gewickelter Ziegelstein auf ihn, der vorher stundenlang im Backofen lag und viel Wärme gespeichert hatte. Und dann wurde es für uns so richtig schön. Unser Vater legte sich auf das Chaiselongue, die Füße am heißen Ziegelstein und rechts und links hatte er seine Mädchen im Arm. Wir passten alle sehr gut auf diese Chaiselongue, denn erstens war mein Vater sehr schlank und wir noch ziemlich klein. Meine Schwester war 6 und ich 9. Unser Vater konnte sehr gut Märchen erzählen und am schönsten waren die, die er selbst erfand. Unsere Mutter saß am Tisch und strickte und das alles beim Licht einer Grubenlampe, denn elektrisches Licht gab es wegen des Schadens am Haus nicht.

Wenn ich so überlege, hört sich das alles so an wie heile Welt, es klingt gemütlich und auch etwas romantisch. Das war nicht immer so, denn ganz plötzlich konnte man durch Voralarm, kurz darauf durch Vollalarm und dann durch die Sirene akute Luftgefahr in Panik versetzt werden. Zwar lag alles bereit, was anzuziehen oder mitzunehmen war – man hatte ja oft genug und in letzter Zeit fast täglich geübt. – Meine Mutter fasste mich, mein Vater meine Schwester und dann rannten wir los. Manchmal standen schon Christbäume am Himmel oder die Flak donnerte aus vollen Rohren und riesige Scheinwerfer suchten den Himmel ab. Für uns Kinder war das manchmal sehr aufregend und spannend. Vor dem etwa 150m entfernten Stollen drängten sich die Menschen, die auch alle Angst hatten und hinein wollten. Einmal schlug nicht weit von uns entfernt eine Bombe ein und durch den Luftdruck wurden wir alle umgerissen. Es war eine große Panik und ich erinnere mich, dass wir alle blaue Flecken hatten. Einmal, ich glaube, das war der 4. November, da haben wir den ganzen Tag in einem Hochbunker verbracht, der während des Angriffs richtig zu schaukeln schien. Und als wir dann endlich den Bunker verlassen konnten, lagen ganz viele Menschen vor dem Bunker auf dem Boden. Wir rannten alle nach Hause und unterwegs erzählte uns unser Vater eine lustige Tiergeschichte, bei der wir lachen mussten. Erst viel später erfuhren wir, dass die Menschen vor dem Bunker alle tot waren und die lustige Tiergeschichte uns nur ablenken sollte. Es gab davor und danach noch viele Bombenangriffe, aber ich glaube dies war der schlimmste.

Aber, trotzdem freuten wir uns auf Weihnachten und trotzdem backte unsere Mutter Plätzchen und der Teig, den meine Schwester und ich bearbeiten durften, sah nachher wie Schokoladenteig aus – aber unsere Hände waren sauber. Und trotzdem hing wie jedes Jahr das geschlachtete Kaninchen am Fensterkreuz zum Abhängen und die Fenster waren wie immer ganz dicht mit wunderschönen Eisblumen verziert. Wir hauchten immer kleine Löcher hinein, nicht um hinauszusehen, nein das Christkind sollte sehen wie brav wir waren. Zum Bravsein gehörte auch, dass wir nicht zu nah an den eisernen Wohnzimmerofen traten, Er war immer rotglühend und wegen der Brandgefahr ein Stück von der Wand entfernt. Und trotz der großen Wärme, die er ausstrahlte, gelang es ihm nicht, die Eisblumen am Fenster abzutauen. Mein Opa sagte mal: vorne verbrennst Du Dir die Nase und hinten friert Dir der Arsch ab. Na ja, das war wohl so. Und trotzdem packte unsere Mutter wieder ein Päckchen für unseren Bruder, der im Krieg war. Dabei weinte sie immer und auch immer wenn die Feldpost kam. Wir haben das damals nicht so begriffen, aber wir waren dann eben auch sehr traurig. Und trotzdem nahmen wir jeden Samstag unser Bad in einer großen Zinkwanne und schoben die sogenannte Schwimmseife, die aber gar nicht schäumte, hin und her. Nur manchmal gabs Geschrei: Mutti, die Doris und manchmal auch die Rosi, hat schon wieder Pumpsblasen gemacht. Und trotzdem freuten wir uns auf Weihnachen und auf unsere neu angezogenen Puppen und auf das, was unser Vater in den vielen Stunden hinterm Vorhang in dem kaputten Zimmer gebastelt hatte. Und natürlich auf den Weihnachtsbaum, die Pappteller mit den Süßigkeiten und auch darauf, dass wir unsere teilweise sehr langen Weihnachtsgedichte vor der Bescherung aufsagen durften. Ja, trotz Sirenenalarm, Luftangriffen, Bomben die fielen, ging für uns Kinder das Leben doch ganz normal weiter.

Und wenn ich mich heute mit meiner Schwester über früher und unsere Kindheit unterhalte – was wir übrigens oft tun – dann sind wir beide uns einig: Es war eine schöne Kindheit und es waren immer schöne Weihnachten!

Verfasst von Rosemarie im Dezember 2019

Photo „Photo of Girl Sitting Near Christmas Tree“ by Jonathan Borba from Pexels
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